Ein kurzer Schauer durchfuhr ihn, als das Bild seiner erhängten Mutter kurz in seinen Gedanken aufflammte, doch er zwang sich es verschwinden zu lassen. `Ich muss die kleine ablenken`, dachte er. `Dann vergisst sie vielleicht vorläufig was passiert ist. Kinder sind so.`<br />
„Mach dir keine Sorgen, wird schon alles gut...", redete er seiner kleinen Schwester gut zu. Sie blickte ungläubig zu ihm auf. „Meinst du?"<br />
Er schüttelte mit einem Ruck alle Gedanken die ihn beschäftigten ab, zwang sich zu einem Lächeln und zeigte auf eine Telefonzelle in der Nähe. „Jo, alles ok ganz easy! Pass auf, wir rufen jetzt Oma an, und die, äh... Wird uns schon helfen... Denk ich mal..."<br />
Josephine schien zwar nicht ganz zu verstehen, nickte aber, und folgte ihm in die Zelle, um bei dem Telefonat zuzuhören. Hiroaki zog ein zwanzig Cent Stück aus einer Tasche, steckte es in den Automaten und wählte dann nachdenklich die Nummer seiner Oma. Ein paar Mal war das Empfangszeichen zu hören, dann meldete sich eine ältere Frau am Ende der Leitung. <br />
„Äh... Hallo Oma, hier spricht dein Enkel Hiroaki..."<br />
Es war ihm klar, dass es im Grunde keinen Sinn hatte, zu fragen, denn die Mutter seiner Mutter hatte ja garantiert schon vom Selbstmord ihrer Tochter gehört. Das Hiroaki in gewissem Maße mit Schuld daran war, wusste sie wahrscheinlich auch. Sie war ihm nicht oft begegnet, aber wenn, dann unter unglücklichen Umständen. <br />
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Einmal hatte er von Johannes ein blaues Auge abbekommen und war nach hause gekommen. Und wer hatte da geöffnet? - Seine Oma. Sie dachte wohl bis heute noch, er wäre ein Schläger. Auch hatte sie ihn einmal mit Bobby zusammen unter der Brücke trinken sehen, und da war ein furchtbares Theater ausgebrochen. Er konnte er ihr kaum übel nehmen, dass sie nicht viel von ihm hielt. Und, bestätigend, aller Erwartungen, antwortete die ältere Frau nicht gerade freundlich...<br />
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„ICH WEIß WAS DU WILLST; ABER DU KOMMST MIR NICHT INS HAUS DU PENNER! ERST TREIBST DU MEINE TOCHTER IN DEN SELBSTMORD; UND JETZT WO SIE DICH NICHT MEHR DURCHFÜTTERT WILLST DU ZU MIR KOMMEN UND BASTARD?! JOE KANN GERN HIER LEBEN ABER DU NICHT!"<br />
Trotz ihren hohen Alters konnte Hiroakis Oma ziemlich laut schreien, und das bekam er deutlich zu spüren. „Was hält sie davon?", hakte die Frau nach. Hiroaki wand sich Josephine zu und fragte: „Joe, willst du alleine bei Oma wohnen?"<br />
Das Mädchen musste gar nicht lange nachdenken. Sie kannte ihre Großmutter kaum, und ohne ihren Bruder allein bei ihr zu leben, dieser Gedanke gefiel ihr gar nicht. „Nein."<br />
Hiroaki grinste und schenkte seine Aufmerksamkeit nun wieder dem Telefonhörer. „Sie will nicht, Oma." Er versuchte so freundlich wie möglich zu klingen, was ihm jedoch schwer fiel, wenn er an Worte sie „treibst du meine Tochter in den Selbstmord" dachte. „Wir gehen zu Onkel Georg, ok? OK? Dann ist ja gut, bye!"<br />
Ohne eine Antwort abzuwarten drückte er den Hörer so fest er konnte auf die Station. Das übrige Geld fiel durch den dafür vorgesehenen Schacht nach unten, er steckte es ein und nahm Josephine bei der Hand. Im Hinausgehen fragte sie ihn: „Du, Hiroaki, wer ist denn Onkel Georg?"<br />
Auf Hiroakis Gesicht zeigte sich ein leichtes Grinsen. Ja, das würde funktionieren! `Irgendwie hats auch was Gutes, das die Alte weg ist...`, dachte er und bog in eine Seitengasse ein.<br />
„Ach, Josephine... Das erklär ich dir, wenn du mal älter bist..."<br />