Nach der siebten Stunde war die Schule aus. Es war gegen halb drei, doch ich dachte nicht daran nach hause zu gehen. Warum auch? Etwas zu essen würde Dieter mir ohnehin nicht geben, und ansonsten würde ich nichts als Schläge kassieren. Ich blieb nach der Schule immer noch ungefähr eine Stunde im Schulhaus, beschmierte die Tafeln, verstopfte die Toiletten mit Klopapier und kippte Papierkörbe um. <br />
Natürlich nur während die Anderen Unterricht hatten. Dann verschwand ich meistens zwei, drei Stunden in die Stadt, traf mich mit Kollegen, oder setzte mich in den Park. Und heute sollte das Alles wieder so verlaufen, wie immer eben. <br />
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Meine Klassenkameraden hatten sofort nach dem klingeln ihre Ranzen zusammengepackt und waren verschwunden. Manche brauchten etwas länger, weil sie noch etwas suchten, oder Tafeldienst hatten, aber allmählich leerte sich das Zimmer. Schließlich blieben nur noch ich und die Neue übrig. <br />
Es hatte schon wieder zur neuen Stunde geläutet, und im Schulhaus war es ganz ruhig. Ich saß auf meiner Bank und versuchte so auszusehen, als würde ich nachdenken, oder etwas suchen. In Wahrheit wartete ich nur, dass die Neue endlich verschwand. Sie schien etwas zu suchen, denn sie durchwühlte ihren Ranzen, holte ihre ganzen Schulsachen heraus, legte sie auf ihre Bank, und suchte weiter.<br />
„Was suchst du denn?", fragte ich, und wunderte mich im nächsten Moment über mich selbst. Was interessierte mich das schon, was diese Tussi suchte? Wahrscheinlich ihr Make-up.<br />
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„Mein Schlüssel für Zuhause ist weg", erklärte sie, und warf hilflos noch einmal einen Blick in ihren inzwischen leeren Ranzen. „Ach", machte ich und verdrehte die Augen. „Du läufst nach hause? Hast du keinen Schofför?" Nenci warf mir einen missbilligenden Blick zu, wurde dann jedoch schnell ruhiger. Sie setzte sich hin und sah aus dem Fenster. <br />
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„Schon klar, dass ihr alle so von mir denkt", flüsterte sie. „Immer wird dieses ganze Drama um mich gemacht, nur weil meine Eltern wohlhabend sind. Aber was nützt das, wenn keiner mich mag? Was hab ich dir denn getan?" Sie sah richtig traurig aus. <br />
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Ich wunderte mich zugegeben sehr, über solche Worte, aus ihrem Mund. Keine Ahnung wieso, aber ich hatte sie ganz anders eingeschätzt. Das sie kaum freunde hatte, weil jeder der ihr zu nahe kam ja praktisch Gefahr lief, verklagt zu werden, darüber hatte ich mir kaum Gedanken gemacht.<br />
„Wie sind denn deine Alten so? Extrem spießig oder einfach nur geizig und scheißfreundlich?" Ich dachte nicht daran, etwas an meinem Wortschatz zu ändern, nur weil ich mit einem Mädchen sprach, dass aus reichem Hause kam. <br />
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„Sie sind ganz okay", antwortete sie. „Aber sie überwachen mich wie ein Tier. Außerdem darf ich mir meine Freunde nicht aussuchen. Sie versuchen ständig mich mit Leuten zu verkuppeln, die auch aus wohlhabenden Familien kommen, selbst wenn ich die gar nicht leiden kann."<br />
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Ich nickte, und holte dann eine Schachtel Zigaretten aus meinem Ranzen. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich bestimmt Kettenraucher gewesen, aber dafür hatte ich kein Geld. Ich konnte nur ab und an mal eine rauchen. Nenci sah mich mit aufgerissenen Augen an. „Du... Du rauchst?", fragte sie mit stockender Stimme. „Klar, wieso nicht?", entgegnete ich locker, und zündete die Zigarette, die ich zwischen meine Zähne geklemmt hatte, an. „Naja...", flüsterte sie. „Meine Eltern haben gesagt, dass das total gefährlich ist, vorallem wenn mans tut bevor man achtzehn ist, und sie haben es streng verboten. Und du bist doch gerade mal..." Sie stockte. „Dreizehn", ergänzte ich grinsend, und schwang mich von der Bank, auf der ich gesessen hatte, herunter. „Is ja hart, die verbieten dir echt jeden Scheiß?" Ich musste an Dieter denken. Ihn interessierte es eigentlich kein bisschen, ob ich nun meine Lunge vergiftete, Tabletten nahm, oder Selbstmord beging. Ich glaube, das wäre ihm sogar lieber gewesen. Nenci schaute aus dem Fenster. Draußen regnete es in Strömen. „April, April, macht immer was er will", flüserterte sie. „Bei dem Wetter kann ich unmöglich nach hause laufen. Ich hol mir den Tod."<br />
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`Sie ist wirklich verwöhnt`, dachte ich. Aber komischwerweise machte mir das plötzlich nichts mehr aus. Ich setzte mich neben sie, und fragte: „Willst du noch bissl hier bleiben? Wenn die Anderen Unterricht haben, kanns in der Schule ganz lustig sein." Sie lächelte mich an. „Wenn du möchtest. Sag mal, was ist eigentlich mit deiner Wange passiert? Bist du hingefallen oder so?" Ich schluckte. Sie Wahrheit konnte ich ihr unmöglich sagen. „Ach, das, nichts weiter, war zu doof zum fahrradfahren", entgegnete ich, und stand dann auf. „Los, komm!", forderte ich sie auf. „Ich hab üblesten Hunger, jetzt gehn wir erstmal in die Esskantiene. Wer als erster unten ist." Und dann rannte ich los. Nenci wartete wahrscheinlich kurz, und folgte mir dann, denn schon bald konnte ich ihre Schritte hinter mir auf der Treppe hören. In ihrem blöden Kleid, konnte sie natürlich nicht so schnell laufen, und so kam ich als Erster an. <br />
Kurze Zeit später kam auch Nenci. „Was willst du denn hier unten, die Kantiene hat doch geschlossen!"<br />
Ich zuckte die schultern, zog eine Nadel aus einer meiner Taschen und stocherte damit dann, in der Tür zur Kantiene herum. Es dauerte nicht lange, dann machte das Schloss „klack", und ich konnte eintreten. Es gab Cola, Fanta, Sprite, Schokoriegel, Hustenbonbons, Suppenterrienen, und vieles mehr. Ich nahm mir etwas von jedem, und auch etwas für Nenci mit. <br />
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Die Tische und Stühle der Kantine standen verstreut ihm ganzen Zimmer herum, und wir setzte uns an einen. Nenci machte große Augen. „Aber Dan! Das ist verboten, du kannst doch nicht einfach essen stehlen!" Sie blickte sich verstohlen um, ob jemand sie vielleicht beobachtet hatte. „Ist doch egal. Dummes Gesetz. Die Schule hat eh genug Geld." Schließlich gab sie sich zufrieden und griff zu. Ich wusste nicht wieso, aber ich mochte sie. Obwohl sie so völlig anders war als ich.